Ahoi, Kapitän
Lothar Bergander baut in seiner Werkstatt Modellschiffe, meist ohne Plan, dafür in extra gross. Gern auch mehrere gleichzeitig.
Eine Nacht in den Siebzigern. Lothar Bergander zieht wie im Rausch eine ganze Bordwand hoch, vom Kiel bis zur Reling, zentimeterbreite Leisten, eine nach der anderen angelegt, genagelt, geleimt, bis der halbe Schiffsbauch geschlossen dasteht. Was er geschafft hat, sollte mit 1,80 Meter sein längstes Schiffsmodell bis dahin werden. Frau und Tochter müssen gucken kommen, das Werk bestaunen. Als Lothar am nächsten Morgen die Tür zur Werkstatt öffnet, weicht seine Freude blankem Entsetzen: Der wasserfeste Leim hat zu viel Zug auf den Schiffsrumpf ausgeübt, Wand und Rumpf völlig verdreht. Dieses Schiff wird niemals schwimmen. Das war bitter, aber auch der Durchbruch: «Seither mach ich immer erst parallel links drei Leisten, rechts drei Leisten – der Anfang muss sitzen.» Inzwischen ist Lothar über achtzig und hat auf diese Weise 34 XXL-Modellbauschiffe gebaut, alle zwischen zwei und vier Meter lang.
Bauchgefühl
Modellbausätze in dieser Grösse, die gibt es natürlich nicht. Massstabsgetreue Pläne? Fehlanzeige. Oft baut Lothar nach Fotos, und seien sie noch so klein. «Er weiss immer, wie’s wird», sagt er und deutet mit beiden Händen auf seinen Bauch. Lothar weiss, wovon er redet. Und woher das Bauchgefühl kommt. Von 1957 bis 1989 fuhr er mit Unterbrechung selbst zur See. Mit 17 heuerte er als Schiffsjunge auf dem Frachter «Land Hadeln» an, arbeitete sich zum Bootsmann hoch, zum ersten Offizier, bis er mit gerade mal 25 zum Kapitän berufen wurde – weil der, mit dem er losfahren sollte, an Bord in einer Ladung Getreide ausrutschte und sich beide Beine brach. Angst hatte er nicht in der Situation. «Ach was, ich wusste, was ich machen musste», sagt Lothar. Als Kapitän machte er mit dem weiter, was er seit seiner ersten Fahrt auf der «Land Hadeln» getan hatte: Modellbauschiffe bauen. In seiner Freizeit, aber auch in ruhigen Momenten in der Funkbude. Die ersten aus Pappe und alten Seekarten, später wurden sie stabiler, grösser. «Immer wenn wir in einen Hafen kamen und der Schiffsmakler die Post brachte, hab ich gesagt: Bring mir Holz mit! Und Messingdrähte!», erinnert sich Lothar. So war das schon immer bei ihm: «Stillstand ist Rückgang. Ich muss immer was machen, immer muscheln.»
Mein Bauch weiss immer schon, wie es wird.
Lothar Bergander
Inzwischen hat Lothar Kommandobrücke und Schiffswerft in einem – in seiner Werkstatt. Jeden Tag gleich nach dem Frühstück um 7.30 Uhr geht er die Wendeltreppe hinab in den Keller seines Hauses im kleinen Ort Hemmoor. Erst zum Mittagessen kommt er wieder hervor, und oft zieht es ihn abends noch mal dort hin. «Schleifen draussen – bohren, raspeln, schmirgeln und lackieren drinnen», ist Lothars Motto, seit er einmal zu ungeduldig war. Er schliff innen ein lackiertes Schiff mit der Flex ab. «Der graue Staub sass überall», erinnert sich Lothar. Er musste die ganze Werkstatt auseinandernehmen. Nie wieder. Und das Wasserschleifen, mit dem er die mehrfachen Lackierungen immer weiter glättet, das geht sowieso nur auf der Terrasse.
Die Werkstatt
Lothars gerade mal 15 Quadratmeter grosse Werkstatt im Keller ist ein Heimwerkertraum: griffbereit aufgehängte Zangen, Schraubenschlüssel, Bohrköpfe und Dübel in allen Grössen, dazu eine Drehbank an der rechten Wand. Alles ordentlich. Eine Kiste mit Schleifmaschinen, dazu Band-, Dekupier-, Stich- und Laubsägen. Gegenüber, an der anderen Wand, erstreckt sich eine Arbeitsfläche mit einem abgewetzten alten Bürodrehstuhl davor und einem kreativen Chaos darauf: Kleber, Farbdosen, eine Dose mit Hundefutter für Chicco, den West Highland White Terrier, Zollstöcke, Holzbrettstücke, ein kleines Schiffsgerippe. «Das brauche ich als Modell für ein Schülerferienprojekt», erklärt Lothar. Das macht er auch noch, jeden Sommer.
Und: Lothar recycelt. Was immer er in die Finger kriegt. Die alten Nähmaschinen-Garnspulen in einer Schachtel? Machen, zusammen mit einem Holzdübel und grau lackiert, was her als Teil einer Schiffswinde. Die Plastikhüllen aus Überraschungseiern? Weiss lackiert werden sie zu täuschend echten Mini-Rettungskapseln. Magensonden aus medizinischem Stahl? Ergeben Antennen an Deck. Aus dünnen Tackerklammern hat er «Geländer» für eine Reling selbst gelötet. Billige Bilderrahmen werden bei ihm mit Kabelbindern zu einem «schönen Rettungsfloss». Und von Airbus bekommt er Nieten für «Positionslampen».
«Dat is dat», grinst Lothar und meint diesen besonderen Moment, in dem sich entscheidet, ob eine Idee, wie sich etwas zweckentfremden lässt, auch wirklich funktioniert. «Sieht hinterher keiner und kostet nichts», freut er sich. Von der Klavierbauerfirma Steinway & Sons in Hamburg bekommt er etwa regelmässig Reste von Furnierholz, das er dann – dick, dünn, hell, dunkel, Nussbaum – zu kleinen Rechtecken zuschneidet. Mit Klarlack glänzend gemacht, noch eine Zwischenlegscheibe als Bullauge drauf, fertig sind die eleganten Kajütentüren auf der «Ostetor», an der Lothar seit sechs Monaten arbeitet, seine Nummer 35.
Mit ihren drei Meter Länge nimmt die «Ostetor» die gesamte rechte Seite des Raumes ein. Davor, am Boden, hat schon die Kiellegung für Nummer 36 begonnen, das ebenso lange Containerschiff «Osteexpress»: Noch ist nichts zu sehen ausser dem «Kiel», eine rund zehn Zentimeter breite, aufrecht stehende Sperrholzschiene, die Lothar noch ausfuttern will: «Mit Balsaholz, verdünnt mit Farbe, das zieht wie ein Schwamm und wird sehr hart.» Ans vordere Ende hat er eine Sperrholzplatte gesetzt: Grob ausgesägt deutet sie bereits die wulstige Schiffsnase an oder, wie er das nennt, «den Tropfen». Wegen seiner klobigen Form wird er ihn aus Vierkantholz rein leimen. «Und dann heisst es sägen, raspeln, schleifen. Schleifen ohne Ende!»
Das Material
«Ich musste auf das Holz warten», sagt Lothar, mal wieder. Corona bremste ihn kurz aus. Es juckte bereits in den Fingern, am «Osteexpress» weiterzuarbeiten. Nun sind die Sperrholzplatten endlich da, Lothar schneidet sie mit der Handkreissäge zu, formt dann mit der Stichsäge Spanten, die er mit dem Bandschleifer entgratet. So entsteht das Schiffsskelett. Danach folgt die «Beplankung», mit fünf Millimeter dicken, etwa ein Zentimeter breiten und 2,80 Meter langen Kiefernholzleisten aus dem Baumarkt. Abend um Abend, jeweils erst drei auf jeder Seite längs aneinandergelegt und geleimt, wächst so der Schiffsbauch – ohne sich zu verdrehen. Später wird er lackiert, so wie der schwarz-rote Korpus der «Ostetor» dahinter.
Seetauglich
Wie in einem Trockendock ruht die «Ostetor» auf niedrigen Tischböcken. Lothar kann gerade noch drum herum gehen. Die Decks sind schon fertig, dem Schiff fehlt allerdings am Heck noch Schandeckel, der Abschluss also, auch dafür braucht Lothar ein Stück Leiste. Rasch kniet er sich hin, um mit der Hand die Biegung der Bordwand anzudeuten. Am Bug fehlt auch noch Verstärkung. Dafür verwendet er flache Holzstäbchen aus Bistros der Deutschen Bahn, die er dort geschenkt bekommen hat. Gekürzt auf rund zwei Zentimeter und nebeneinander verleimt, sollen sie die Spitze des Schiffs stabilisieren. «Ferngesteuert kann das dann gegen eine Wand fahren, und trotzdem passiert nichts», beteuert Lothar. Zumal er den Lack bis zu zehnmal aufträgt. Wasserdicht. Denn natürlich sind alle seine Schiffe «seetauglich». Deshalb wird bald auch die rund 40 Kilo schwere «Ostetor» getauft, auf den Hänger gepackt und mit einem Stapellauf zu Wasser gelassen. Auf dem Löschteich der Feuerwehr oder gleich auf der Oste, wenn das Wetter wieder besser ist.
Dann heisst es sägen, raspeln, schleifen. Schleifen ohne Ende!
Lothar Bergander
Direkt am Ostehafen in Hemmoor-Schwarzenhütten, ein paar Kilometer entfernt, ist Lothar aufgewachsen. Lange war die Oste, ein Nebenfluss der Unterelbe, ein wichtiger Handels- und Transportweg – vor allem für Zement, früher für Ziegel, Ton und Holz. Schon als kleiner Junge bildete Lothar aus Streichholzschachteln die Hafenanlagen nach, die heute halbe Ruinen sind, und träumte sich mit jedem Schiff, das ablegte und hinter der Biegung der Oste verschwand, in die Ferne. «Wäre ich hier geblieben, wäre ich untergegangen. Ich bin viel zu lebendig!» Längst wohnt er aber wieder in Hemmoor, und von seinem inzwischen dritten Haus – selbstverständlich alle selbst gebaut – blickt er über Wiesen, hinter denen die Oste fliesst.
Drinnen hat er einige seiner Schiffe drapiert: Im Büro mit Fotos aus seiner Kapitänszeit ruht die «Osteblick» auf einem Regal, ein leicht abgewandelter Nachbau des Hamburger Museumsschiffs «Cap San Diego», mit der Lothar selbst unterwegs war. Seine Modellbauschiffe haben alle echte Schiffe als Vorbilder; er gibt ihnen aber eigene Namen, weil er kleine Änderungen vornimmt. An einer Wand vor dem Büro ist die «Campestern» ausgestellt, eine Nachbildung des Eisbrechers «Polarstern», dessen «Mütze», ein schützender Überbau am Bug, er aber weggelassen hat: «Das gefiel mir nicht.» Selbst im Heizungskeller, gleich neben dem Regal mit Lack- und Farbtöpfen, stapeln sich die Modellbauschiffe: das Mehrzweckschiff «Hemmoor», davor der Frachter «Margot», den Lothar für seine Frau baute, und die «Norden», seine Version eines Ölauffangschiffs.
Das grösste und längste, die vier Meter lange «Land Hadeln», steht gleich im Carport neben der Haustür: Benannt ist es nach dem Frachter, auf dem er selbst seine erste Reise als Schiffsjunge machte und nachempfunden dem Passagierschiff «Song of America». Es hat zwei Sonnendecks. Eisbecher-Papierschirmchen, die ungenutzt in einer Schublade schlummerten, spenden potenziellen Passagieren Schatten am Pool. Lothar hat sie mit Klarlack haltbar gemacht. Und obwohl die «Land Hadeln» der Länge nach sein «Meisterstück» ist, so gehört sein Herz doch eigentlich den ehrlichen Frachtern, Bergungsschiffen und Eisbrechern. «Passagierschiffe sind nicht meins», sagt Lothar entschieden, «bei mir muss was passieren, da muss es was zu löschen geben.»
Text: Andrea Freund | Fotos: Bernd Jonkmanns