Bauen wie im Mittelalter
Die Herausforderung: Eine Burg zu bauen. Aus Stein, Holz, Erde, Sand und Ton. Mit Techniken des 13. Jahrhunderts. Beobachtet von Hunderttausenden Fans.
Das Projekt: Eine mittelalterliche Burg aus Naturstein, Holz und Erde zu bauen. Die Schwierigkeit: Erlaubt sind nur Methoden, Materialien und Hilfsmittel der damaligen Zeit. Rund 40 Handwerker haben sich darauf eingelassen. Und bauen wie die Urväter. Unter den Augen von Hunderttausenden Schaulustigen.
Arbeit in rund 25 Metern Höhe
Baptiste Fabre dreht den grossen Sandstein in seinen Händen nach rechts und links. Seine Augen tasten dabei die Oberfläche ab, suchen nach Sedimentspuren und Erosionslinien. «Man muss die Steine lesen, bevor man sie setz», erklärt der 30-Jährige. «Denn wenn sie falsch liegen, kann Wasser eindringen.» Er legt den Stein behutsam auf das Stück Mauer vor ihm. Schliesst sich gut an den Nachbarstein an. Baptiste nickt zufrieden und sucht sich dann aus den grob behauenen Steinen, die um ihn herum liegen, den nächsten aus.
Der Maurer und Steinmetz ist einer von 40 Handwerkern, die im französischen Burgund eine Burg aus dem 13. Jahrhundert errichten. Seit fünf Jahren arbeitet er auf der mittelalterlichen Baustelle Guédelon, immer unter freiem Himmel. Dass ein altes Gemäuer rekonstruiert wird, ist eigentlich nichts Besonderes in Frankreich. Und doch ist hier alles anders. Denn zwischen dem alten verlassen Steinbruch und seinem benachbarten Eichenwald heult weder eine Motorsäge noch jault ein elektrischer Schlagbohrer. Auch einen Kran oder einen Bagger sucht man vergebens. Die Burg Guédelon ist eine Zeitreise ins Jahr 1228: Alle arbeiten hier ausschliesslich mit den im Mittelalter üblichen Techniken und Materialien.
Dadurch ist Baptistes Arbeit wie eine Art Naturstein-Puzzle, das unter seinen Händen entsteht. Mal schliesst der Stein perfekt eine Lücke, mal muss er erst mehrmals gedreht werden, bis die ideale Position gefunden ist. Erst wenn er die einzelnen Brocken harmonisch zusammengefügt hat, kommt der Mörtel ins Spiel, um das Sandstein-Puzzle für die Ewigkeit zu fixieren. Es ist eine mühsame Arbeit. Die Stirn des Maurers ist längst von Schweissperlen übersät.
Man muss die Steine lesen, bevor man sie setzt.
Baptiste Fabre
Ein riesiges Hamsterrad als Lastenaufzug
Das verrückte Bau-Abenteuer, gelegen tief in der Natur, irgendwo zwischen Orléans und der berühmten Weinstadt Beaune, nahm vor 20 Jahren seinen Anfang. Längst ist es zu einem wichtigen Freiluft-Labor für Wissenschaftler und einer beliebten Touristenattraktion geworden. 300.000 Besucher kommen jedes Jahr auf die mittelalterliche Baustelle. Hier transportieren Pferdekarren den Sand von einem Ort zum anderen, Menschen halten einen Lastenaufzug allein durch ihren Körpereinsatz in Bewegung – in einer Art überdimensioniertem Hamsterrad. Also echte Herausforderungen. «Unsere Handwerker wurden in der modernen industriellen Kultur ausgebildet und müssen nun ihr Können ganz bewusst zur Seite legen. Viele moderne Handgriffe sind nicht vergleichbar mit denen des Mittelalters. Wir gehen sozusagen zurück zu den Ursprüngen der einzelnen Berufe. Selbst die Meister ihres Fachs müssen ihr Handwerk neu lernen», sagt Florian Renucci, Chef der Baustelle. Doch genau das macht Guédelon auch so besonders und wertvoll. «Die Historiker geben uns wichtige Hinweise. Aber sie können nur die fertigen Gebäude analysieren. Sie wissen nicht, wie im Mittelalter im Detail gebaut wurde. Ob ihre wissenschaftlichen Vermutungen stimmen oder nicht, erkennen wir erst bei unserer Arbeit.»
Was für ein komplexes Gebilde eine mittelalterliche Mauer ist, hat auch Maurer Baptiste erst bei der Arbeit verstanden. Genormte Ziegel mit glatten Kanten gibt es da nicht. Man braucht viele verschiedene Techniken, um eine gute Statik zu erzeugen. «Das Innere der Mauern, die bis zu drei Meter dick sind, besteht aus eng aneinander gelegten kleinen Steinen, dem Abfall der Steinmetzarbeiten. Sie stabilisieren zusammen mit nach innen ragenden grossen Steinen die Wand und sichern sie gegen Druckeinwirkungen von aussen ab», erklärt der Franzose, der gerade auf rund 25 Meter Höhe die letzten Maurerarbeiten am Kapellen-Turm abschliesst. Immer wieder prüft er mit der traditionellen Setzwaage, einem gleichschenkligen Holzdreieck mit einem pendelnden Senkblei in der Mitte, ob die Steine einigermassen gerade liegen. Im Mittelalter hatte man noch keine Wasserwaage. Sein Kollege Nicolas Touchefeu kommt vorbei, um nach dem Stand der Dinge zu sehen. Der Zimmermann wird bald hier oben übernehmen, um auf den Turm den Dachstuhl zu bauen.
Bauholz aus dem Eichenwald der Region
Die Vorbereitungen dafür laufen seit rund zehn Monaten. Die vielen Dachstuhlbalken müssen per Hand in Form gebracht werden. Nicolas, der wie alle hier einen einfachen Baumwollanzug trägt, gehalten von einem ledernen Werkzeuggürtel um die Hüften, erzählt: «Für den Dachstuhl brauchen wir Balken in der Länge von fünf Metern. Dazu suchen wir hier im Eichenwald nach den besten Bäumen.» Die sind meist zwischen 80 und 100 Jahre alt. Wenn sie gefällt sind, geht der 37-Jährige sofort ans Werk.
Wir verarbeiten nur frisches Holz, weil das leichter zu behauen ist.
Nicolas Touchefeu
Nicolas arbeitet mit einer speziellen mittelalterlichen Axt aus einem leicht gebogenen Stiel und einer Schneide, die nicht mittig, sondern seitlich geschmiedet ist, damit man sich beim Abschlagen des Spans nicht verletzt. Zwei bis drei Kilo wiegt das Werkzeug in seiner Hand. «Zuerst schlage ich an dem Baumstamm alle 30 Zentimeter kleine Kerben ins Holz. Daran arbeite ich mich dann entlang.» Mit jedem Schlag schält sich eine neue Schicht vom Stamm. Abgeschlagen wird nur das Splintholz, also der junge Bereich des Baums. Der harte Kern im Inneren bleibt und liefert die Festigkeit. «In einer Stunde schafft man in der Regel rund einen Meter Balken», sagt der Zimmermann. Er ist einer von denen, die bei diesem verrückten Projekt am längsten dabei sind. Warum er hier vor 15 Jahren angefangen hat? «Weil ich schon immer mehr Spass daran hatte, mit der Hand zu arbeiten als mit der Maschine», sagt er. Reicht.
Ziegeln aus Lehm und Wasser
Ähnlich geht es Gaëlle Choux. Die ausgebildete Töpferin setzt ihr Know-How jetzt nicht mehr für dekorative Sachen ein, sondern in der Ziegelei. Zusammen mit Kollegen und Praktikanten arbeitet sie gerade an einem Riesenauftrag: 80.000 Dachziegel. Das braucht viel Zeit. Der Lehm wird direkt aus einem kleinen, feuchten Graben neben der Ziegelei mit dem Spaten aus dem Erdreich gelöst und per Hand in kleine Teile zerbröselt. «Die roten Spuren im Lehm zeigen, dass er sehr eisenhaltig ist. Das ergibt eine schöne Tönung und die ist ideal für Tonarbeiten,» so Gaëlle. Den zerbröckelten Lehm übergiesst sie mit Wasser und stampft ihn zu einer geschmeidigen Masse, dem sogenannten Lehmkuchen. «Das erinnert ein bisschen an Kinderknete», sagt die 33-Jährige und knautscht zufrieden eine Handvoll zwischen ihren Fingern, bevor sie eine grössere Ladung in die rechteckige Ziegelform aus Holz drückt. Mit einem runden, mit Stoff umwickelten Kolben walzt sie die Luftblasen aus dem Material, damit die Ziegel später beim Brennen nicht zerbrechen. Ihr letzter Arbeitsschritt ist das Formen des Ziegelfalzes, mit dem die fertigen Ziegel später auf dem Dach ineinander gehängt werden. Vorsichtig löst Gaëlle ihr Werk aus der Form und legt es zu den hundert anderen, die auf Regalen an der Luft trocknen.
Gebrannt werden sie erst einige Tage später – bei 1000 bis 1200 Grad. Fünf selbst gebaute Öfen und einige Jahre hat es gebraucht, bis die Ziegel perfekt gelangen.«Das ist ein gutes Beispiel für den Geist von Guédelon: Bei uns darf auch etwas misslingen. Wir kennen oft nicht die perfekte Technik und müssen daher erst Lösungen finden. Klappt der erste Versuch nicht, fangen wir von vorne an. Immer wieder und solange, bis es funktioniert. Wo ist heute so ein Lernen aus Fehlern noch erlaubt?», fragt Marilyn Martin.
Die Französin ist Co-Initiatorin des Projekts und begleitet die mittelalterliche Baustelle seit der Planungsphase im Jahr 1997. Sie war es auch, die von Anfang an die Investoren auf eine sehr lange Bauzeit einschwor. Insgesamt werden es wohl 30 Jahre werden, bis die Burg ganz fertig gestellt sein wird. Es soll ein Herrschaftshaus mit runden Ecktürmen und Trockengraben im Stil König Philipps II. von Frankreich werden. «Im Mittelalter wurden solche Burgen in zwölf bis 15 Jahren errichtet», sagt Marilyn. «Die Handwerker des 13. Jahrhunderts wussten eben genau, wie es geht. Und sie hatten auch keine Touristen zu Besuch.»
Der Geist von Guédelon: Bei uns darf auch etwas misslingen.
Marilyn Martin
In rund zehn Jahren soll die Burg von Guédelon fertig sein
Es mag früher schneller gegangen sein, machte den Bauarbeitern aber wahrscheinlich viel weniger Spass. In Guédelon arbeitet eine eingeschworene Gemeinschaft: Jeder hilft hier jedem mit dem Ziel, das unglaubliche Projekt so perfekt wie möglich zu vollenden. Doch was passiert, wenn der letzte Stein verbaut ist und das letzte Zimmer bemalt ist? Wo werden heute noch Handwerkstechniken des Mittelalters benötigt? Marilyn lächelt geheimnisvoll und verrät: «Wir können gar nicht aufhören. Ich habe da so einige Ideen – und auch schon ein neues Gelände. Es wird eine Fortsetzung von Guédelon geben.» Man darf also gespannt sein. Das verrückte Bau-Abenteuer ist noch lange nicht zu Ende.
Text: Barbara Markert | Fotos: Stéphanie Füssenich