Das grösste Baumhaus der Welt
1993 hatte der Landschaftsgärtner Horace Burgess eine göttliche Eingebung: Der Amerikaner solle ihm ein Baumhaus bauen, so sprach der Herr. Innerhalb von 14 Jahren errichtete Horace daraufhin in Tennessee das wohl grösste Baumhaus der Welt.
Bauerfahrung? Fehlanzeige. Wie gross sein Baumhaus einmal werden würde, wusste Horace Burgess auch nicht. Er verliess sich auf nichts Geringeres als Gottes Versprechen: «Wenn du mir ein Baumhaus errichtest, sorge ich dafür, dass dir das Baumaterial nie ausgehen wird.» Und so begann er 1993 mit dem Bau. Einfach so.
Auf seinem Grundstück in Crossville, Tennessee, hatte der Landschaftsgärtner genügend Platz und Bäume. Der Rest würde sich ergeben. Der erste Schritt zum Baumhaus: eine 26 Meter hohe Treppe. Die baute Horace direkt neben einer gigantischen Eiche mit vier Meter dickem Stamm. So konnte er schon mal auf seinen Baum klettern, um dort in Ruhe zu beten. Das war ihm wichtig.
Für das eigentliche Baumhaus nahm sich Horace viel Zeit. 14 Jahre lang baute und baute er. Ohne Skizzen, intuitiv, so wie es ihm gefiel. Das von Gott gesandte Baumaterial fand der 43-jährige Amerikaner letztendlich in gebrauchten Brettern aus alten Schulen oder Resten aus Baumärkten. Das Baumhaus wurde immer grösser: 30 Meter hoch, zehn Stockwerke, 98 Treppenstufen. Konstruktionen von Sperrholzbrettern liefen um die riesige Eiche und sechs weitere Bäume herum, einige Äste wuchsen durch die Bretter hindurch. Das Haus wurde eins mit den Bäumen.
Durch seine unglaublichen Dimensionen wurde der Bau schnell berühmt und bekam seinen Spitznamen: «Horace’s Cathedral». Kein Wunder: Der Turm mit dem spitzen Dach sieht aus wie ein Kirchturm. Im Inneren des Baumhauses hatte Horace, der sich während des Baus zum Priester weihen liess, sogar eine Kapelle gebaut, inklusive Altar, Kirchenbänken und Kreuz. 20 Jahre lang läutete er täglich die Kirchenglocken – aus umfunktionierten, aufgeschnittenen Sauerstoffflaschen. Wenn kein Gottesdienst stattfand, wurde die Kapelle kurzerhand zum Basketballplatz umfunktioniert. Der Basketballkorb hängt immer noch an der Wand.
Das Baumhaus wurde zur Besucherattraktion. Bis einem pensionierten Bauingenieur 2012 fehlende Notausgänge und Feuerlöscher auffielen. Mit einem Schlag war Horaces Traum zu Ende, das Eingangstor zum Baumhaus verriegelt. Dabei hatte er noch grosse Pläne für das Baumhaus: Aufzug, Heizung, auch mit Strom wollte er es ausstatten.
«Horace’s Cathedral» ist seit sechs Jahren offiziell geschlossen. Das hält manche aber nicht davon ab, dorthin zu pilgern. Einige können der Versuchung nicht widerstehen, betreten das Baumhaus – und machen sich damit strafbar. Ein kleiner Trost für Horace: Seine Kathedrale fasziniert. Seit 25 Jahren. Auch wenn sie jetzt zusehends verfällt.
Text: Esther Acason | Fotos: action press