Das Königreich aus Sand
Der König von Rio lebt am Strand. In einer selbst gebauten Sandburg. Sein Name ist Márcio Mizael Matolas, und bei gutem Wetter wacht er schon frühmorgens auf dem Thron vor seinem Palast über sein Reich. Und ist bereit zur Audienz.
Um eine Audienz beim selbst ernannten «König von Rio de Janeiro» zu bekommen, reichen ein paar Sonnenstrahlen. Dann steigt Márcio Mizael Matolas, 45, auf seinen hölzernen Thron vor seinem Palast aus Sand und hält mit den Passanten auf der Avenida do Pepe ein kleines Schwätzchen. Sein Königreich aus Sand befindet sich im Ortsteil Barra da Tijuca im Südwesten Rios gleich neben dem Posto 2, der zweiten Rettungsschwimmerstation am Strand.
Gerade macht er Ausbesserungsarbeiten. In seinen Händen wirken die Spachtel und feinen Messer, mit denen er die Spitzen der Mauern und Burgtürme formt, wie kleine chirurgische Instrumente. Er ist ein Bildhauer – nur mit anderem Material. «Geduld und eine ruhige Hand», sagt der Autodidakt, «das sind die wichtigsten Eigenschaften, um eine solche Sandburg zu bauen.»
MACHER: Mit welchen Werkzeugen arbeitest Du?
Márcio Mizael Matolas: Für die groben Arbeiten nehme ich einen Spachtel, den man auch von der Arbeit mit Gips kennt. Die kleinen Ecken der Türme schneide ich mit einem Teppichmesser. Das hat den Vorteil, dass man millimetergenau ritzen kann. Dann brauche ich einen Eimer für das Wasser und eine kleine Giesskanne, mit der ich das Wasser gezielt verteilen kann.
MACHER: Wie lange hast Du gebraucht, um deine Sandburg zu bauen?
Márcio Mizael Matolas: Ich habe vor 23 Jahren angefangen, diese Burg zu bauen. Alles, was ich brauchte, waren Sand, Wasser und die Kraft der Sonne. Sie macht den Sand meist hart wie Zement. Etwa vier Tage habe ich für die groben Arbeiten gebraucht. Danach ging es an die Feinarbeit. Eine Sandburg in dieser Grösse ist niemals fertig, sie braucht immer Pflege. Das Wichtigste ist, einen Plan im Kopf zu haben. Wie soll die Skulptur aussehen, was soll sie darstellen? Es gibt in Rio zahlreiche Sandburgen von der Christusstatue, dem Maracanã-Stadion oder dem Zuckerhut. Zum Festival «Rock in Rio» werden auch mal Gitarren gebaut, aber ein eigenes Schloss hat niemand sonst.
Nachdem seine prachtvolle Burganlage fertig war, entschied sich Márcio, auch das Innere bewohnbar zu machen. Stolze 16 Quadratmeter misst die Fläche, auf der die Burg steht, inzwischen, der Hintereingang ist für die Touristen, die an der Panorama-Seite vorbeigehen, nicht zu sehen. Ein kleiner schmaler Durchgang, zusammengebaut aus Holzpfählen, dient als Haupteingang. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Bücher stapeln sich im Inneren. Es ist der zweite Traum des Königs von Rio: der Bau einer Open-Air-Bibliothek gleich neben der Burg. Das hat sich herumgesprochen, Freunde, Touristen bringen ihm fast jeden Tag Bücherspenden.
MACHER: Lebst Du in der Sandburg?
Márcio Mizael Matolas: Ja und nein. In der Hauptsaison, wenn der Strand voller Menschen ist, dann bleibe ich auch über Nacht in der Burg, um möglichst früh bei Sonnenaufgang schon auf dem Thron zu sitzen. Aber ich habe auch eine kleine Wohnung, in die ich mich zurückziehe, wenn das Wetter schlecht ist oder keine Touristen da sind.
Die Pflege der Burg ist ein Vollzeitjob. Vor allem nach heftigen Regenfällen kontrolliert Márcio, ob alle Türme die Naturgewalt überstanden haben. Kündigt sich ein Gewitter an, versucht er, das Kunstwerk mit einer Plastikplane abzudecken. Leichter Regen ist keine Gefahr, hart auftreffende Regentropfen eines Gewitters aber können eine zerstörerische Kraft entfalten, Hagel ist eine Katastrophe.
Mit den Touristen hat er einen Deal geschlossen. Nachzulesen auf einem Schild gleich nebenan. Wer Fotos machen will, ist herzlich eingeladen, wird aber um eine Spende gebeten, um so den Erhalt und die Pflege der Burg zu garantieren. Deshalb hält der König auch jeden Tag Hof, nur so lassen sich die «Steuern und Abgaben» für das Königreich zuverlässig eintreiben. Von diesen Einnahmen lebt er. Er ist nicht reich, aber es ist genug, um «mit Würde über die Runden zu kommen», wie er sagt.
Márcio hatte eine schwierige Kindheit in Duque de Caxias, einem der riesigen armen Vororte von Rio. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Der wurde bei einem Überfall eine Woche vor seiner Geburt erschossen. In der Familie gab es Streit, Márcio entschied sich früh, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er zog aus, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und lernte die Sandburgenbauer an der Copacabana kennen. So fing alles an. «Schöner Strand, aber viel Konkurrenz und viele Konflikte», erinnert er sich an die ersten Versuche als Burgenbauer. Deshalb wechselte er mit 22 Jahren den Standort. Ging nach Barra da Tijuca. Kaum Kriminalität, dafür aber auch weniger Touristen. Seit den Olympischen Spielen 2016 hat sich das geändert. Es kamen neue Hotels und mit ihnen mehr Gäste.
Ein Dutzend Sandburgen gibt es an den berühmten Stränden Rio de Janeiros: An der Copacabana, in Ipanema und in Barra wetteifern die Künstler um die Aufmerksamkeit der Touristen: König Márcio ist aber ein Unikat, weil er selbst Teil dieses Kunstwerks ist.
MACHER: Was mögen die Menschen besonders an der Burg?
Márcio Mizael Matolas: Ein Deutscher hat mir mal gesagt, das Schönste sei, dass Mensch und Burg ein Gesamtkunstwerk sind. Das hat mir sehr gefallen. Die Leute lieben es, sich mit mir fotografieren zu lassen. Und sie nehmen auch gern auf dem Thron Platz. Ich kann mir keinen schöneren Ort vorstellen. Für mich ist das Freiheit. Totale Freiheit.
Auch für ein Zepter hat der König selbst gesorgt. Dazu hat er eine Batterievorrichtung an einem Holzstab angebracht, die eine kleine Lampe zum Leuchten bringt. Dann strahlen seine verbliebenen Zähne mit dem Zepter um die Wette. König Márcio liebt seine Arbeit und sein Reich. Und es macht ihm auch nach dem tausendsten Foto noch Spass, seine Krone aufzusetzen.
In den Wintermonaten, wenn Nebensaison ist und Ruhe am Posto 2 einkehrt, packt Márcio seine Werkzeuge aus und bringt bis zum Frühling die Burg auf Vordermann. Dann beginnt ein neues Jahr im Leben des «Königs von Rio de Janeiro».
Text: Tobias Käufer | Fotos: Lianne Milton