Das Schloss aus Scherben und Schotter
Tiefstapeln ist nicht Steffen Modrachs Sache. Eher hoch. Und übereinander: Seit mehr als acht Jahren arbeitet er täglich an Schloss Lilllliput. Sein Baumaterial: Scherben, Schuhe, Schmuck und Schotter.
«Der hat nicht alle Tassen im Schrank!», sagten die Leute. Abhalten liess Steffen Modrach sich nicht. Sein Plan: Eine verfallene Hütte im brandenburgischen Ort Naundorf will er zu einem Bauwerk machen, das die Welt noch nicht gesehen hat. Das ist über acht Jahre her.
Schon von weitem ist die Krone zu sehen, die sich golden über die Dächer des winzigen Dorfes erhebt. An ihren Zacken bunte Narrengestalten. Mit jedem Schritt, mit dem man sich dem Gebäude nähert, zeigt sich mehr von der aussergewöhnlichen Fassade: Eine Explosion aus Farben und Formen und Materialien. Teller, Tassen, Knöpfe, Fingerhüte, Schotter, Tonscherben, Zuckerdosen, Schuhe, Plüschtiere, Knochen – es gibt nichts, was hier nicht verbaut ist. Rund 400 Kaffeekannen in der Fassade dienen Zaunkönigen und Bachstelzen als Brutplatz.
Hereinspaziert
«Willkommen in meinem kunterbunten Paradies, einer Arche für Mensch und Tier», grüsst Steffen Modrach oder Viktor I. von Naundorf, wie er sich selbst nennt: «Willkommen auf Schloss Lilllliput!» Schloss? An der Gebäudefront steht in grossen roten Lettern «Rathaus». Man bekommt eben auch Rat hier auf Lilllliput. So einfach. Die vier «L» im Namen sind übrigens kein Versehen, sondern Konzept: «Viele schöne Worte beginnen mit einem ‚L‘. Die vier ‚L‘ in Lilllliput stehen für Liebe, Lust, Laune und Leidenschaft», erklärt der Schlossherr. Viel los hier, merkt man gleich. Und gewöhnlich ist hier gar nichts.
Die vier L in Lilllliput stehen für Liebe, Lust, Laune und Leidenschaft.
Steffen Modrach
«Als Kind – ich bin in der DDR aufgewachsen – habe ich mich immer gefragt: ‚Warum sind die Häuser alle grau und eckig? Warum nicht rund und bunt?’» Er wollte ein Haus, das alles anders macht.
In der DDR brachten ihm solche verrückten Ideen – und davon hatte Modrach einige – viel Ärger. Zum Beispiel die Einweisung in die Nervenklinik. Der Ausbruchsversuch – erst aus der Anstalt, dann aus dem Arbeiter- und Bauernstaat – endete vor dem Lauf einer Kalaschnikow. Es folgten Jahre im DDR-Gefängnis, danach der Versuch, ein bürgerliches Leben zu führen, als Schreiber für Tageszeitungen, als Kranfahrer, Hausmeister, Pfleger. Nach der Wende wird es turbulenter. Modrach schlägt sich als Pilot in Australien durch, als Zauberkünstler und als freischaffender Autor für Bücher aller Art. Was über all die Jahre bleibt und weiter in ihm keimt, ist der Traum vom runden und bunten Haus. Er wächst zum Traum vom eigenen Schloss.
Einen Bruder im Geiste findet er in Friedensreich Hundertwasser, dem «Gegner der geraden Linie» und jeglicher Standardisierung, dem Freund der Lebendigkeit und Individualität. Modrach liest alles, was er über den architektonischen Vordenker in die Finger bekommt, mietete sich sogar für zwei Jahre in die Grüne Zitadelle in Magdeburg ein, das letzte Projekt, an dem Hundertwasser bis zu seinem Tod arbeitet. Schliesslich ist er bereit für sein eigenes Werk und legt los.
Schichtarbeit
Schloss Lilllliput ist ein Vollzeitjob. Modrach arbeitet täglich daran, steht jeden Morgen um drei Uhr auf und macht sich gleich nach dem Frühstück auf. Die Basis aller Strukturen bilden faustgrosse Betonkugeln, die er aus Zement formt und zu Türmen, Torbögen und Mauern übereinander stapelt. An guten Tagen verarbeitet Modrach drei Sack Beton zu rund 150 Kugeln. Bislang hat er bereits 4500 Sack Zement verbaut. Das Ergebnis: Rund 500.000 Betonkugeln. In einem zweiten Schritt werden die Betonkugeln beklebt – immer und immer wieder, sodass Schloss Lilllliput an fast keinem Tag gleich aussieht...In den Fugen, Ritzen und Hohlräumen, die bei dieser Bauweise unweigerlich entstehen, finden Insekten und Vögel Unterschlupf.
Als Kind habe ich mich immer gefragt:
Warum sind die Häuser alle grau und eckig, und nicht rund und bunt?
Steffen Modrach
Insgesamt soll jedes Bauteil vier Schichten bekommen. Von der ersten Schicht ist schon nichts mehr zu sehen. Sie besteht aus einer Geheimschrift: Jedem der 28 Buchstaben des Alphabets hat Modrach eine Farbe zugewiesen und sein Haus mit bunten Quadraten beschriftet. Daraus ergibt sich eine Botschaft. Wer also Modrachs Manifest lesen will, seine Sicht auf die Welt, muss etwas Gehirnschmalz mitbringen. Und ein Röntgengerät.
Mit den weiteren Schichten, mit jedem weiteren Teil verändert das Gebäude sein Gesicht, ist in ständigem Wandel. Wird runder und bunter. Zwölf Türme hat Steffen Modrach geplant. Viele davon haben keinen Eingang für Menschen. Nur kleine Fensterschlitze, in denen sich Fledermäuse wohlfühlen.
Doch auch menschliche Besucher haben zum Schloss Zutritt: Einmal am Tag führt König Viktor I. sie durch sein Reich. Seine Führungen haben mit den üblichen Museumsbesuchen allerdings nur wenig zu tun: «Meine Grundbedingung: Jeder muss mindestens zehn Mal lachen!» Eine gängige Museumsregel gilt allerdings auch hier: Anfassen verboten. Schliesslich ist Schloss Lilllliput ein work-in-progress, das nach Modrachs Plänen erst in 18 Jahren vollendet sein wird – oder, «wenn ich mit meinem Gesicht endgültig auf die Erde knalle».
Neben kostenlosen Baumaterialien wie alte Kaffeekannen und Tonscherben, die Modrach selbst sammelt oder gespendet bekommt, gibt es auch kostspielige Bauteile. Hinter der Toilette zum Beispiel hat er ein 220-DM-teures Stück Meissner Porzellan verbaut. Auch die daumennagelgrossen Mosaikquadrate gehen ins Geld. 40 Cent pro Stück klingt nicht viel, Modrach hat allerdings bereits rund zwei Millionen von ihnen verbaut. An manchen Stellen kleben auch Münzen an der Fassade. «Ich dachte mir, wenn ich einfach 20-Cent-Stücke verarbeite, kommt mich das gleich um die Hälfte billiger», erklärt Modrach und lacht. Das habe ihm seine Frau, die grösste Förderin seines Projektes, dann aber verboten. «Zu dekadent», fand sie.
Statik nach Modrach
Was die Statik seiner Konstruktionen angeht, verlässt sich Modrach eher auf seine Intuition und das Prinzip von Trial-and-Error: «Das Gebäude spricht mit mir und ich kann darauf eingehen, was es braucht.» Ein Beispiel: Baut Modrach eine Decke, klebt er in die Ecken leicht zerbrechliche Weihnachtskugeln. An den Stellen, an denen sich die Decke langsam absenkt, zeigen sich durch den Druck Risse auf den Kugeln. So weiss er, wo er nachbessern und stabilisieren muss.
Dass sich diese Verfahrensweise nicht mit dem deutschen Baurecht deckt, ist Modrach bewusst. Aber er weiss auch: Für Kunstwerke gelten Ausnahmeregelungen. Dass Schloss Lilllliput längst ein Kunstwerk ist, haben mittlerweile auch die lokalen Politiker und Nachbarn erkannt. Und allen anderen, die immer noch glauben, Modrach hätte nicht alle Tassen im Schrank, zeigt er gerne einen besonderen Platz in seiner Schlossmauer. Rechter Hand vom Eingangstor hat er einen offenen Schrank installiert. Randvoll mit Tassen.
Die Werkstoffliste
Aufs Stück genau zählen kann Steffen Modrach die Teile, die er in seinem Schloss Lilllliput verbaut hat, schon lange nicht mehr. Aber auch die geschätzten Zahlen und ein Auszug aus der langen und ungewöhnlichen Materialienliste machen Eindruck.
Bislang befindet sich an und in den Gemäuern schon Folgendes:
4.500 Sack – daraus entstanden u. a. rund 500.000 Betonkugeln.
2 Millionen – mit 0,40 € pro Stück kein günstiger Baustoff.
ca. 400 Stück – perfekte Brutplätze für Zaunkönige und Bachstelzen.
ca. 400 Stück – ein 220-DM-teures Stück Meissner Porzellan hat er hinter der Toilette «Zum Klugscheisser» verbaut.
20 Stück – ein Pianist hat sie ihm kommentarlos per Paket geschickt.
100.000 – so viele sind und werden noch an den Schlafzimmerwänden zur Lärmdämmung und Dekomaterial verbaut. Jede einzelne soll vergoldet werden.
Unzählige – sie stammen vom Flohmarkt oder werden gespendet.
Mehrere hundert – eine Sammlung aus Kitsch und Grösse: Von Engeln bis Marx ist alles dabei.
Tausende – sie sorgen dafür, dass Schloss Lilllliput bei Sonnenschein besonders glitzert und funkelt.
Hunderte – weil sie Geschichten erzählen und «Leben getragen» haben, wie Modrach sagt.
Text: Jens Wiesner / Fotos: Lucas Wahl