Der Laternenmacher
Joachim Schmidt hat in einem mittelalterlichen Beruf sein Glück gefunden. Der gelernte Dreher gehört zu den letzten Laternenmachern Deutschlands.
Diese Geschichte beginnt mit dem hässlichsten Licht, das die Menschheit je erfunden hat. Dem Licht einer Leuchtstoffröhre. Es ist das einzige Zugeständnis an die Moderne, das sich Joachim Schmidt in seiner Hinterhofwerkstatt aus dem 19. Jahrhundert erlaubt hat. Denn so romantisch das Licht einer flackernden Kerze auch ist, zum Arbeiten taugt es nicht. Und hier sind Augenmass und Millimeterarbeit gefragt. In präziser Handarbeit schneidet der Laternenmacher die Einzelteile seiner Werkstücke zurecht, bevor er sie zusammen lötet. Und wenn im Herbst die Tage kürzer werden und nur noch wenig Sonnenlicht auf seine 150 Jahre alte Werkbank fällt, muss er den Lichtschalter eben umlegen.
Der 59-jährige Zwickauer sieht aus wie aus der Zeit gefallen. Da steht er an seiner Werkbank, eine mittelalterliche Handwerkermütze auf dem Kopf und eine 120 Jahre alte Lederschürze über der blauen Jeanslatzhose. Inmitten seiner Laternen, gross und klein, bunt und schlicht. Inmitten seiner Werkzeuge. Inmitten von Holz und Glas und Metall in verschiedensten Stadien der Bearbeitung.
Für den Zeitgeist, der immer schneller immer mehr will, hat der gebürtige Vogtländer nur Worte übrig, die hier anstandshalber nicht genannt werden sollen. «Ich bin kein Amazon-Versandhandel», sagt er, schnaubt und erzählt von einer Kundin, die in seine Werkstatt gestürmt kam und – «fix, fix» – ihre bestellte Laterne mit EC-Karte bezahlen wollte. Das kann man hier nämlich nicht.
Noch mehr als die fertige Laterne liebt Joachim die Arbeit daran. Das Schneiden und Schleifen, das Klopfen und Justieren, das Zurechtrücken und Verbessern von Arbeitsschritten. Das Probieren, welche Farben gut zusammenpassen und welches Glas das Kerzenlicht am schönsten bricht. Die Idee, seine Laternen in einem modernen, kühlen Ausstellungsraum in Szene zu setzen, gefällt ihm nicht. Kunden empfängt er in seiner Werkstatt. Dort, wo die Arbeit geschieht. «Die sollen was anfassen können», sagt er. «Ich zeige ihnen dann, wie man Glas schleift und Bleiprofile verlötet.»
In 25 Jahren habe ich sicher schon 20.000 Laternen gebaut.»
Joachim Schmidt
Die Vorstellung, dass die alten Fertigkeiten in Vergessenheit geraten könnten, gefällt Joachim nicht. Deshalb gibt er Laternenbau-Workshops für Grundschulen, will Kindern weitergeben, was er sich selbst beigebracht hat. Der grösste Bewunderer seiner Arbeit aber ist Hannes, sein zwölfjähriger Sohn. Der will das Laternenhandwerk fortführen, wenn den Vater eines Tages die Kräfte verlassen.
Im Schein des Mittelalters
Viele Jahre lang hatte Joachim als Händler verschiedene Sachen auf Mittelaltermärkten verkauft, liebte es, märchenhafte Geschichten rund um seine Waren zu spinnen. Seinen eigenen Stand hatte Joachim damals nach altem Vorbild selbst gezimmert, war aber schnell auf ein Problem gestossen: die Beleuchtung bei Dunkelheit. «Die Öllampen sind mir immer ausgelaufen und ich hab mich ständig dran verbrannt.» Weil elektrisches Licht für ihn keinesfalls in Frage kam, sollten es Laternen sein, im mittelalterlichen Stil. Doch die gab es nicht so einfach zu kaufen.
Also machte sich Joachim selbst ans Werk: In einem Museum im Westerwald holte er sich Inspiration, dann setzte er sich zu Hause an den Nachbau. Zwei Wochen lang dauerte es, bis die ersten beiden Exemplare fertig waren. Die Laternen, ursprünglich als unverkäufliche Standdekoration gedacht, liefen seinem eigentlichen Angebot bald den Rang ab. «Pro Tag wurde ich 50 Mal darauf angesprochen, es war verrückt.» Joachim krempelte die Ärmel hoch und tauchte auf dem nächsten Markt mit 20 Laternen auf – diesmal käuflich zu erwerben zum Preis von 30 Mark. Zwei Tage später war der Vorrat bereits erschöpft. Und die neue Idee war geboren: «Jetzt wirst du Laternenmacher!» Das war vor 25 Jahren.
Den Beruf des Laternenmachers gab es im Mittelalter tatsächlich, bis der Stellmacher seine Arbeit im 17. Jahrhundert übernahm. Zu diesem Zeitpunkt kamen auch die ersten Holzlaternen auf, damals schon mit Bleiverglasung. Überhaupt, Bleiglas. Joachim kommt ins Schwärmen, wenn er von dem besonderen Licht erzählt, das durch die bunten Bleiglasfensterteile scheint. «Wie in den grossen Fenstern gotischer Kirchen.» Im Urlaub hält er oft an, um sich alte Kathedralen anzuschauen. «Aber flackerndes Kerzenlicht bricht sich noch schöner als Tageslicht.»
Feingefühl durch Praxis
Eineinhalb Jahre lang trainierte Joachim, bis er seine ersten Laternen mit Bleiverglasung in Serie herstellen konnte. Bis er alle 236 Arbeitsgänge verinnerlicht hatte und auf den Millimeter genau wusste, wie dick oder dünn, wie lang oder kurz die 41 Einzelteile für ein durchschnittlich aufwendiges Laternenmodell sein mussten, sollten allerdings noch weitere Jahre vergehen. «Man kann sich mittlerweile Vieles selbst per Internet beibringen», sagt er. Aber die kleinen, wichtigen Tricks kommen mit der Erfahrung.
Das richtige Feingefühl bekommt man sowieso nur durch Praxis. Wie viel Spiel müssen die Holzelemente beim Zusammensetzen haben, damit das Material bei Temperaturschwankungen später nicht birst? Sollen die Holzelemente verleimt (auf keinen Fall!) oder verzapft (ja!) werden? Welches Holz ist das geeignetste?(Buche in Nussbaumlasiert!) Welcher Lötzinn? Aber auch das Gehör ist wichtig. Wenn Joachim Glas schneidet, lauscht er deshalb genau hin. Das Knacken und Knarzen des Materials verrät ihm, wie viel Druck er ausüben darf, damit der Schnitt sauber wird, das Glas aber nicht splittert.
Ich habe gelernt, dass weniger mehr ist. Und, dass einzig die Liebe zum alten Handwerk wirklich zählt.
Joachim Schmidt
Dreieinhalb Arbeitstage braucht Joachim, der täglich ab halb 9 in seiner Werkstatt zu finden ist, für eine grosse Laterne aus seinem Sortiment. Auf dem Dachboden der Werkstatt stapeln sich die Kisten, in denen er seine vorgefertigten Einzelteile lagert. Alle millimetergenau per Hand zurechtgeschnitten. Das sei besonders wichtig, damit am Ende alles passgenau ineinander greift – wie bei einem Puzzle. Damit die vorgeschnittenen Glas- und Strebenelemente beim Zusammensetzen und Verlöten nicht verrutschen, nutzt er eigens dafür zugeschnittene Schablonen und Rahmen.
Eigentlich könnte die Manufaktur mit dieser Methode deutlich mehr produzieren – wenn Joachim zusätzliches Personal einstellen würde. Will er aber nicht. «Ich arbeite lieber allein. Wenn du was falsch machst, kannst du dir selbst auf die Nuss hauen.» Es ist eine Erkenntnis, die ihn die Zeit gelehrt hat.
Was wirklich zählt
Wenn Joachim über seine eigene Vergangenheit redet, dann liegt darin keine Verklärung, sondern die Erkenntnis, aus den Höhen und Tiefen gelernt zu haben. Der Tiefpunkt, daran kann er sich noch genau erinnern, kam zur Jahrtausendwende mit dem Euro. 60 Prozent Umsatzeinbussen, der Betrieb stand kurz vor der Aufgabe. «Da hab ich zu meiner Frau gesagt: Wir müssen alles komplett runterfahren.» Joachim, der damals nicht schlecht verdient, sein Geld aber auch gern für gute Autos ausgegeben hatte, trat kürzer, sparte, wo es nur ging, und gönnte sich wieder Zeit: Statt sich auf sechs Weihnachtsmärkten aufzureiben, konzentrierte er sich auf den einen in seiner Heimatstadt Zwickau.
Heute sieht er diesen Moment, diesen Zwang zum Entschleunigen und Innehalten, als Segen. «Ich habe gelernt, dass weniger mehr ist. Und dass einzig die Liebe zum alten Handwerk wirklich zählt.» Das mag zunächst wie eine Binsenweisheit klingen oder wie ein clever ausgedachter Werbespruch. Aber wer Joachim dabei zusieht, mit welcher Zufriedenheit und inneren Ruhe er bei der Arbeit ist und wie er es geniesst, seinen Besuchern jeden einzelnen Arbeitsschritt ganz genau zu erklären, der ahnt, dass hier mehr am Werk ist als eine gut geölte PR-Maschine.
Ein Mann, der sich im Erreichten ausruht, ist der Lampenmacher jedoch ganz und gar nicht. Ruhe und Gelassenheit wären schnell dahin, wenn er sich nicht immer wieder neuen Herausforderungen stellen könnte. Sei es nun, Dudelsack spielen zu lernen. Oder sich in die Programmierung von Internetseiten oder in das Fotografieren mit der Spiegelreflexkamera einzufuchsen. Das hatte er eigentlich in fremde Hände gegeben, war mit dem Ergebnis aber nicht zufrieden. «Die Farben kamen nicht richtig raus.»
Wusstest Du das?
Zu Goethes Zeiten gab es Laternen mit einer, zwei oder drei Kerzen. Das einfache Volk hatte Laternen mit einer Kerze, die reicheren Leute zwei, die Adeligen drei. Wer auf dem Bürgersteig oder in einer engen Gasse einem Menschen mit einer Laterne mit mehr Kerzen entgegenkam, musste dem andere Vorfahrt gewähren und in den Matsch treten.
So entwickelt sich auch das Sortiment seiner Manufaktur ständig weiter. In der Regel entwirft Joachim einmal pro Jahr ein neues Laternenmodell. Am Anfang steht eine grobe Skizze auf dem Papier. Dann bestellt er sich beim Grosshändler Kathedralglas in unterschiedlichen Farben und Strukturen und legt los. Ist der erste Entwurf fertig, darf zuerst seine Frau ihr Urteil fällen. «Manchmal lasse ich mich schon beraten», sagt Joachim und grinst schelmisch. «Aber meistens mache ich doch, was ich will.» Eins ist allerdings klar: Eine Laterne, deren Licht Joachim nicht gefällt, verlässt seine Werkstatt nicht.
Bevor eine Laterne offiziell ins Sortiment aufgenommen wird, steht allerdings noch die Taufe an: «Die sieht ja aus wie ne dicke Bertha!», hatte ein Marktkunde einmal lachend gerufen. Seitdem gibt Joachim seinen Laternenmodelle Namen. Einen «Anton» gibt es schon (benannt nach dem Grossvater), eine «Susanne» (benannt nach seiner Frau) und eine Kinderlaterne «Hannes». Sein Lieblingsmodell ist «Elisabeth», benannt nach Queen Elisabeth – «weil die so aufwendig gearbeitet ist und sich die Farben besonders schön spiegeln.»
Ja, die Farben. Daran kann sich Joachim niemals satt sehen. Jedes Mal, wenn ein neues Modell fertig geworden ist, zelebriert er diesen Moment mit einem besonderen Ritual: Wenn der Abend hereingebrochen und es ganz dunkel geworden ist in seiner Werkstatt, öffnet er sich erst einmal ein kühles Bier. Dann entzündet er eine Kerze in der neuen Laterne und setzt sich hin. Ganz still ist es nun an diesem Ort, der normalerweise von lauten Arbeitsgeräuschen geprägt ist. Auch Joachim ist jetzt ganz ruhig. Schweigend geniesst der Laternenmacher, wie der flackernde Kerzenschein bunte Formen auf den Boden seiner Werkstatt wirft. Und verliert sich für einen Moment in einer anderen Welt.
Text: Jens Wiesner | Fotos: Verena Berg
Alte Handwerkskunst in Zwickau
Wer sehen möchte, wie Joachim Schmidt das Glas für seine Laternen schleift und vielleicht sogar eine handgefertigte Laterne kaufen möchte, kann ihn in seiner Werkstatt in Zwickau besuchen.