Eine riesige Kugelbahn aus einer Drahtkonstruktion, sechs Meter lang, ein Meter breit, 1,80 Meter hoch. 700 Kilogramm Schweissdraht wurden in ihr verbaut – und zwölf Jahre von Paul Rüdisühlis Lebenszeit. Fertig ist die Kugelbahn noch lange nicht. Pauls Ziel: eine Kugelbahn, auf der 30 kleine Metallkugeln, jeweils 100 Gramm schwer, gleichzeitig laufen können, wenn man sie im Abstand von 30 Sekunden die Bahn entlang schickt. Mit einer Gesamtlaufzeit von 15 Minuten. Damit wäre es vielleicht sogar die Kugelbahn mit der längsten Laufzeit weltweit. Momentan laufen die Kugeln nur elf Minuten die Bahn entlang. Auf der Art Basel 2019 soll die Konstruktion der Öffentlichkeit präsentiert werden. Bis dahin muss alles rollen.

Paul Rüdisühli, 56 Jahre alt, gelernter Karrosseriemechaniker. Nach einem Jahr hatte er genug von dem Job und folgte seiner wahren Berufung: Kugelbahnen bauen. Die faszinierten ihn schon seit seiner Kindheit. Vor rund 30 Jahren baute er seine erste. Die war nur einen Meter hoch. Also nichts im Vergleich zur Kugelbahn der Superlative, an der Paul aktuell arbeitet. Sie wird Kugelbahn Nummer vier. Die fünfte plant Paul auch schon. Vielleicht knackt er bald den ersten Rekord: als die Person, die in ihrem Leben am meisten Metallkugeln aufgelesen hat. Rund 4000 Mal, ca. 30 Mal am Tag, sagt er.

2002 fing alles an. Ein Arzt sah seine erste Kugelbahn, die in einem Krankenhaus ausgestellt ist, und fragte eine weitere an, passend für eine andere medizinische Einrichtung. Die Kugeln sollten genau 15 Minuten laufen. Drei Jahre rechnete Paul, wie die Bahnen verlaufen müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Er fing an zu bauen und liess alles andere dafür links liegen. Ein fester Job war eh nichts für ihn. Er wollte sich nicht gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen. Sondern lieber seine Kugelbahn bauen. Doch ein Projekt dieser Dimension erforderte entsprechenden Raum – und Geld. Daher musste er die Arbeiten immer wieder unterbrechen. Nach rund acht Jahren Bauzeit wurden die Kosten für die Werkstatt zu hoch. Doch Paul wollte nicht aufgeben.

«Wenn man eine Vision hat, muss man sie in die Tat umsetzen», sagte er sich und suchte sich zwischenzeitlich doch einen herkömmlichen Job – als Taxifahrer – und liess seine Kugelbahn umziehen: ins Wohnzimmer. Nicht nur toleriert, sondern auch unterstützt von seiner Freundin Irene. Sie gibt ihm im 70 Quadratmeter grossen Wohnzimmer den Raum für alles, was er braucht: sein Autogenschweissgerät, eine Gas- und eine Sauerstoffflasche und eine Tonne Schweissdraht. Der Vorteil: Hier kann Paul vierzehn Stunden am Tag durcharbeiten, wenn er muss, den Grossteil davon nachts. Dann läuft eh die beste Musik im Radio. Ganz wichtig: Die Temperatur im Wohnzimmer. Hier kann er die Temperatur ganz gut regulieren. Die Raumtemperatur muss nämlich zwischen 19 und 21 Grad liegen. Sonst verzieht sich das Metall.

Das merkte er vor allem in diesem Jahr: Durch den extrem heissen Sommer musste er öfter pausieren. Es war einfach zu heiss im Wohnzimmer. Inzwischen kann er weiterarbeiten und sich den letzten fehlenden Skulpturen widmen, die 3D-artig aus der Kugelbahn herausgucken. Und die Laufzeit auf 15 Minuten verlängern. Bis Juni 2019 hat er noch Zeit. Bis dahin soll die Kugelbahn auch fertig sein. Muss sie auch. Denn zahlreiche Architekten, die sein Treiben fasziniert verfolgen, wollen die Bahn noch vollendet sehen. Und haben Angst, dass sie vorher sterben, wie Paul lachend sagt.

Erwachsene dabei zu beobachten, wie sie wieder zu kleinen Kindern werden, wenn sie voller Freude das Auf und Ab seiner Kugelbahn beobachten. Das treibt ihn an. Für viele spiegelt Pauls Kugelbahn auch das Leben an sich wieder. Einen Weg zu finden im Chaos. Einen Weg, der nicht schnurstracks verläuft, sondern auch mal kreuz und quer. Hoch und runter. Das gefällt Paul. Damit kann er sich identifizieren. Denn so sieht es auch in seinem Kopf aus. Wenn er nach 14 Stunden harter Arbeit schlafen geht und sich fragt: «Warum tust du das eigentlich? Warum gibst du nicht auf?». Es ist ein ewiger Kampf gegen sich selbst. Durchzuhalten und zu Ende zu bringen, was er angefangen hat. Und es allen anderen beweisen, die ihn für verrückt halten und oft sogar für faul. Seit 2002 muss er sich von anderen Menschen anhören, er solle sich «einen richtigen Job wie jeder andere» suchen und acht Stunden am Tag arbeiten gehen. Dass er zum Teil 14 Stunden am Tag arbeitet, sehen sie nicht. Das nagt an ihm. Auch deswegen steht er jeden Morgen auf und sagt zu sich: «Pack es an!».

Materialkosten für zwölf Jahre Arbeit: um die 40.000 Franken, umgerechnet rund 35.500 Euro. Darin eingerechnet ca. 130 Euro die Woche für Gas- und Sauerstoffflaschen. Alleine nicht zu bewältigen. Deswegen wurde Paul zwischenzeitlich von verschiedenen Seiten finanziell unterstützt. Die alle wollen, dass Pauls Kugelbahn endlich fertig wird. Und er sich seinem eigentlichem Lebenswerk widmen kann: einer begehbaren Kugelbahn. Klingt skurril – und ist es sicher auch. Sonst würde es nicht zu Paul passen.

Text: Esther Acason | Fotos: © Anne Gabriel Jürgens