Die Pinselmacherin
Riesige Pinsel für übergrosse Kulissen. Sybille Grossmann stellt in Handarbeit Pinsel für Theater aus ganz Europa her. Ein Werkstattbesuch.
Wenn Sybille Grossmann in ihrer kleinen Werkstatt ihre Runde dreht, ist sie in ihrem Element. Hier fühlt sie sich wie zu Hause. Strahlt eine unglaubliche Ruhe aus, wenn sie ihre Pinsel in die Hand nimmt. Mit geübtem Blick überprüft sie, ob alle Borsten dieselbe Länge haben. Nickt zustimmend, bevor sie zum nächsten Pinsel übergeht. Man merkt: Jeder Handgriff sitzt. Kein Wunder, denn das Pinselmachen steckt der 56-Jährigen fast schon in den Genen. Nicht irgendwelche Pinsel. Sie hat sich auf Pinsel für Theatermaler spezialisiert. Wie ihr Vater vor ihr. Und ihr Grossvater war Direktor einer grossen Pinselfabrik vor Ort. Seitdem hat sich einiges geändert. Statt einer grossen Fabrik hat Sybille nun einen kleinen Werkstattraum mit angrenzendem Lager, der direkt unterhalb ihres Wohnhauses am Rand von Ravensburg liegt. Hier ist es gemütlich und aufgeräumt zugleich. Jeder der zahlreichen Pinsel und kleinen Werkzeuge hat seinen Platz, ideal auf ihren Arbeitsablauf abgestimmt. Das muss auch so sein, denn Sybille stellt Pinsel in den unterschiedlichsten Grössen her. Sie muss immer genau wissen, wo sie was findet.
Ich bin mit Pinseln aufgewachsen
Sybille Grossmann
Ihre Arbeitsstationen hat sie kreisförmig im Raum angeordnet: An der ersten Station am Fenster werden die Borsten abgewogen und anschliessend mit Blech eingefasst, einem Metallring, der die Borsten zusammenhält und die Dicke des Pinsels bestimmt. Wie lange sie genau für einen Pinsel benötigt, weiss sie nicht im Voraus. Sybille macht nie einen Pinsel von Anfang bis Ende, sondern einen Arbeitsschritt oft mehrmals. So schafft sie in kürzerer Zeit mehr. Das hat sie schon von ihrem Vater so gelernt. Obwohl das gar nicht der Weg war, den sie ursprünglich für sich gesehen hatte. «Nach der Schule bin ich aus Ravensburg weggezogen, bin nach Berlin, habe Sozialpädagogik studiert und auch in dem Beruf gearbeitet», erzählt sie ruhig. Dann kam ihr zweites Kind zur Welt. Die Herausforderung: Was lässt sich mit der Betreuung eines Babys und dem schon schulpflichtigen ersten Kind vereinbaren? Die Entscheidung: im Familienbetrieb als Pinselmacherin einsteigen. «Damit bin ich aufgewachsen», sagt sie. Hier war ihr schon alles vertraut. Fehlte nur noch handwerkliche Übung. Mit ein paar Stunden an zwei Tagen die Woche im Keller ihres Elternhauses ging’s los, ein Jahr darauf war sie schon täglich dabei. Und hatte ihre Bestimmung gefunden.
Das erzählt sie, während sie die Holzschablone von unten in die Borsten schiebt, damit der Pinsel seine charakteristische Form erhält. Die Pinsel, an denen sie gerade arbeitet, sollen nicht gerade, sondern rund sein. Dafür braucht sie eine ruhige Hand. Denn die Borsten sind fein und müssen gleichmässig eingepasst werden – am Ende soll keine Borste überstehen, sonst malt der Pinsel nicht gleichmässig. Dann drückt sie mit einer Zange das Blech zusammen, damit die Borsten in Position bleiben.
Fast meditativ wirkt sie bei ihrer Arbeit. Holt sie ein Werkzeug, bewegt sie sich leise und bedächtig durch ihre Werkstatt. Sie ist nicht hektisch bei der Sache, lässt sich Zeit. Auch beim Spezialkleber, der nun von oben ins Blech eingefüllt wird, darf ihre Hand nicht zittern. Sonst läuft er über, und der Pinsel ist ruiniert. Gut 20-mal hat sie einen Pinsel in der Hand, bis er fertig ist. Nach dem ersten Eingiessen des Spezialklebers ist erst mal Schluss. Der Kleber muss gut einen halben Tag auf einem speziellen Gestell trocknen.
Ist der Kleber getrocknet, kommt die Besonderheit, die ihre Pinsel auszeichnet: Eine Schraube wird von unten eingesetzt und noch mal mit Spezialkleber fixiert. In diese Schraube kann dann ein Stab in der benötigten Länge eingeschraubt werden. Wichtig für die Künstler am Theater: Für die Prospekte, wie die zehn bis 20 Meter breiten Leinwände für Hintergründe heissen, benötigen sie je nach Grösse unterschiedlich lange Malgeräte.
Theater aus ganz Europa bestellen bei Sybille: die Scala in Mailand, die Wiener Oper, das Opernhaus Zürich und auch Det Kongelige Teater in Kopenhagen. Ausserdem alle grossen Theaterhäuser in Deutschland und Österreich.
«Das Sortiment aus rund 60 verschiedenen Malgeräten ist in Zusammenarbeit mit den Theatern entstanden», sagt Sybille und räumt einen 1,10 Meter grossen Zirkel zur Seite. Der wird für kreisförmige Malereien auf dem Bühnenbild genutzt. Etwa zwei- bis dreimal im Jahr bestellen Theater Pinsel-Sonderanfertigungen. «Spannend zu sehen, was mit den Pinseln entsteht. Andere Welten oder realistische Panoramen. Am besten ist die Wirkung der Theaterleinwand erst ab gut zehn Meter Entfernung.» Dann sieht man das grosse Ganze. Das fasziniert Sybille. Auch noch nach vielen Jahren.
Ich finde es spannend zu sehen, was mit den Pinseln entsteht. Andere Welten oder realistische Panoramen
Sybille Grossmann
Sybilles Pinsel haben nicht nur besondere Formen und Grössen, sondern auch besondere Borsten: solche, die besonders viel Farbe halten können. Alle Borsten unterscheiden sich voneinander und eignen sich für das Malen spezieller Formen. Blumen, Gräser, impressionistische Werke oder Strassenkulissen. Jeder Pinsel wird für etwas anderes gebraucht.
Mit feinen Pinseln komme man bei einer Theaterleinwand nicht weit. Dafür sind vor allem die grossen, schrubberartigen da. «Für die Pinsel», erklärt Sybille, «eignen sich vor allem die Borsten des Chungking-Schweins.» Drei Jahre muss das Tier im Freien gelebt haben, sonst wachsen die Borsten nicht dicht und dick genug. Sie kann lange schwärmen von der besonderen Borstenform und deren Malverhalten, streicht dabei immer wieder über die Pinselborsten, nimmt sie in ihre Faust wie einen Zopf: «Sie sind kegelförmig, haben eine schuppige Struktur», erklärt sie. Perfekt für die Theatermalerei, um die Farben gut zu halten, auch auf grossen Leinwänden.
Ist der Pinsel fertig, folgt eine Spezialbehandlung: Sybille bestreicht die Borsten mit einer eigens entwickelten Leinsamenpaste, legt sie gut vier Stunden in den Backofen. Das schützt die Borsten, bis sie im Theater zum Einsatz kommen. Aufgrund der Nachfrage hat sie kürzlich auch Kunststoffborsten ins Sortiment genommen. Wegen des Sparbetriebs vieler Theater würden immer mehr günstige Farben eingesetzt, erklärt sie. Und die machen die Schweineborsten kaputt.
Überhaupt, das Sparen. Die Aufträge gehen etwas zurück: «Viele Theater drucken Hintergründe aus oder haben nur noch minimalistische Bühnenbilder», erklärt sie. Ans Aufhören denkt Sybille deshalb aber noch lange nicht: «Manches kann ich nur in grossen Mengen bestellen, die Bestände reichen noch locker fünf Jahre.» Und Interesse an dem Handwerk gibt es auch noch. Immer wieder bekommt sie Anfragen von Menschen, die das Pinselmachen erlernen wollen. Sybille lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Und stellt weiter Pinsel in ihrer Werkstatt her, damit im Theater neue Welten entstehen.
Text: Catharina König I Fotos: Bernd Jonkmanns