Uno, due, tre: Ein Geisterdorf erwacht
Der Ort: die Ruinen eines italienischen Ortes. Die Aufgabe: das zerfallene Dorf wieder aufbauen. Die Mittel: alte Bautechniken – und jede Menge Muskelkraft.
Sie studieren «Umwelt, Territorium und Landschaft», also Geografie, an der Universität Mailand. Jetzt packen die jungen Männer und Frauen an, mit grossem Enthusiasmus und unter der Anleitung von Maurizio Cesprini, 43, vom Verein Canova, den sie «Prof» nennen. Dabei sieht Maurizio so gar nicht aus wie ein Professor: Lange, ungezügelte Haare rahmen sein bärtiges Gesicht, vor allem aber turnt er mit einer Arbeitshose um die Häuser herum und zückt immer wieder seinen Zollstock, um passende Steine für den Treppenbau zu finden. Gemeinsam arbeiten sie am Aufbau einiger Häuser am Rande des winzigen Ortsteils Ghesio, einer Ansammlung von knapp 20 Häusern. Nur wenige davon sind noch bewohnt. Canova will die Bausubstanz erhalten, alte Kultur- und Bautechniken weitergeben und dafür sorgen, dass in Ghesio wieder Leben einkehrt. So bestehen die Dächer hier nicht aus Ziegeln, sondern aus flachen Steinplatten, die zwischen Latten klemmen. Früher gab es hier nämlich keine Ziegel, weil in der Gegend keine Tonerde vorkommt und Steinplatten daher günstiger waren als gebrannte Ziegel. Moderne Technik kommt so gut wie nie zur Anwendung: Es gibt eine Bohrmaschine, sonst nichts. Dass so ein Projekt trotzdem funktionieren kann, hat die Gruppe wenige Hundert Meter weiter schon einmal bewiesen: Die Häuser von Canova, eines anderen Ortsteils von Montecrestese, sahen einmal aus wie diese hier. Der Vorsitzende des Vereins, ein amerikanischer Hippie namens Ken Marquardt, fing in den Neunzigern an, sie herzurichten. Der Grund: Er hatte sich in den malerischen Ort in den Bergen verliebt. Inzwischen sind die meisten Häuser dort wieder bewohnt.
Der Verein brauchte ein neues Projekt, und Marquardt gab den Stab an Maurizio weiter. Der empfängt seit rund zehn Jahren immer wieder Gruppen von Schülern oder Studenten in dem Gemäuer. Bei Freiwilligentagen packen auch die Mitglieder des Vereins und Leute aus dem Ort mit an.
«Uno, due, tre!» Wieder heben die Männer die Steinplatte an. Sie ist so schwer, dass es mehrere Etappen braucht, bis sie dort ist, wo sie hinsoll: auf die höchste Stufe. Jetzt liegt sie zwar an der richtigen Stelle, doch damit ist die Arbeit an diesem Nachmittag noch lange nicht getan.
Sechs Stunden zuvor. Am Morgen, auf dem Weg nach Ghesio, begleitet einen das Geläut von Kuhglocken, der Pfad führt zwischen Bäumen hindurch. Schliesslich lichtet sich das Grün, und der Blick fällt auf einige halb verfallene Gemäuer vor einem Tal. Dahinter ragen Bergwände auf, die Gipfel in der Ferne sind schneebedeckt. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass das Haus ganz links völlig intakt ist. Und auf den dritten Blick sieht man hinter der schmalen Öffnung vor einem, die einmal eine Tür fassen wird, eine Gruppe junger Menschen. Sie sitzen fröhlich beim Kaffee. Hier soll einmal ein Studienzentrum für den Verein Canova entstehen, doch bis dahin ist noch viel zu tun. Immerhin: Hier erwartet einen schon ein Kühlschrank, ein Gasherd – und Otto, der König des Hauses, ein Golden Retriever, der sämtliche Bauarbeiten aus nächster Nähe beobachtet, unbeeindruckt von Lärm und herumfliegenden Teilen. Immer wieder legt er sich irgendwo hin, wo er auf jeden Fall im Weg ist.
Während die sechs Studenten Gurte unter dem Brocken durchziehen, erteilt Maurizio eine kurze Lektion in Steinkunde. Die Brocken stammen alle aus der Gegend, aber nicht aus Marmorgruben, sondern aus den Gebirgen oder von Findlingen, die vor Jahrtausenden hierherkamen. Die Männer rütteln jetzt die Gurte unter den Steinplatten durch. Als sie richtig sitzen, schieben sie eine Stange durch die Schlaufen am Ende der Gurte und rufen wieder «Uno, due tre!» Dann spannen sie ihre Muskeln und schleppen.
Chiara Vallarino
Chiara Vallarino, 22, hat derweil mit kleineren Steinstücken zu tun. Sie bastelt ein Steinmosaik an der Türschwelle, die später einmal nach draussen zur Treppe führen wird. «Mein Traum ist, Schauspielerin zu werden, das hat mit dieser Arbeit gar nichts zu tun», sagt sie. «Ich habe noch nie richtig mit den Händen gearbeitet, und auch das Arbeiten im Team, das gemeinsame Lösen von Problemen gefällt mir.»
Jetzt haben Maurizio und die sechs Studenten ein Problem: Die Platte passt noch nicht. Mehrmals müssen die Männer den Brocken anheben, damit Maurizio Stücke weghämmern kann. Sie wuchten den Stein hoch, sodass er auf einer Seitenfläche steht und Maurizio den Hammer ansetzen kann. Alle wenden sich ab, um keine Steinstücke in die Augen zu bekommen – ausser Maurizio. Er steht am nächsten und trägt eine Schutzbrille. Als die Platte passt, ist Maurizio immer noch nicht ganz zufrieden. Er mustert sie kritisch und erkennt eine leichte Krümmung an der Oberfläche. «Na ja, wenn der Stein erst mal eine Weile liegt, hat man sich daran gewöhnt», sagt er schliesslich und lacht.
Nachdem die letzte Stufe gelegt ist, meint Federico, mit seinen 27 Jahren der älteste der Studenten, er könne noch weitermachen, er habe noch Energie. Andere sitzen schon im Schatten. Ihnen reicht’s für heute, ihre Kräfte sind erschöpft. Federico erzählt, dass er ursprünglich Lehrer werden wollte, jetzt ist eine Stelle bei der Forstpolizei sein Ziel. «Den ganzen Tag am Computer zu sitzen, das kann ich mir nicht vorstellen.» Hier geniesst er den Blick auf die Berge. Abends sind alle müde. Sie trinken noch etwas Wein, dann geht es endlich ins Bett. Auf Federicos Rücken ist eine Comicfigur mit einem Hilfe-Schild tätowiert, «Willy Koyote». «Ich bin auch so ein Pechvogel wie der», erklärt er. Vor der Herfahrt hatte er in einem Totobüro noch schnell die Fussballergebnisse getippt, drei Euro Einsatz, vier Spiele. Alle Ergebnisse waren richtig, nur hatte die Angestellte sie nicht rechtzeitig eingelesen. Doch dass er beinahe 750 Euro gewonnen hätte, ist fast schon vergessen, als auch er nach einem langen Tag ins Bett sinkt.
Text: Sandro Mattioli | Fotos: Arnaldo Abba Legnazzi